Die Finger auf den schwarzen und weißen Tasten, die Füße auf den Holzpedalen: So kennen die Menschen in Lunestedt Ingrid Bullwinkel. Seit 50 Jahren spielt die Kirchenmusikerin die Orgel in der St. Ansgari-Kirche. Zwei Begleiter sind von Beginn mit dabei.
An ihrem Fahrradlenker baumeln viele bunte Bänder, manche sind schon zu einem dicken Zopf geflochten: Erinnerungen an so manche Tour bei der Aktion „Kirche auf dem Rad“. 1,1 Kilometer sind es von ihrem Hof bis zur Kirche. Unzählige Male ist sie diese Strecke geradelt – um Gottesdienste, Trauungen, Taufen und besondere Veranstaltungen musikalisch zu begleiten oder einfach, um zu üben.
„Ja, 50 Jahre“, sagt Ingrid Bullwinkel, zuckt ein bisschen mit den Schultern und lacht. Auch sie kann kaum glauben, dass sie so lange dabei ist. Als Kind hat die heute 72-Jährige gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester in ihrer Heimat Driftsethe das Klavierspielen erlernt. „Ein Lehrer aus Bremerhaven kam damals zu uns nach Hause.“ Sie ist bis heute froh, dass ihre Eltern ihr das ermöglicht haben. Als sie nach ihrer Heirat nach Lunestedt zog, fragte die damalige Pfarrersfrau Elisabeth Haar sie sofort, ob sie nicht im Gottesdienst die Orgel spielen möchte, und Ingrid Bullwinkel sagte Ja. Zwei Jahre später ging sie, unterbrochen von einer Babypause, noch einen Schritt weiter. „Zusammen mit meiner Schwester habe ich die Orgel-Ausbildung gemacht und die D-Prüfung mit ,gut‘ bestanden“, erzählt die Mutter zweier Söhne lächelnd. „Die Urkunde besitze ich noch.“
Dass sie das alles trotz Landwirtschaft und kleiner Kinder in Angriff nehmen konnte, ging nur, weil ihr Mann und Schwiegereltern den Rücken freihielten, wenn sie „in die Kirche musste“. „Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.“ Kälber und Pferde versorgen, die Betreuung der Jungs – all das musste gut organisiert und geregelt werden.
Zuerst habe das Lampenfieber sie ganz schön geplagt. „Durch die Routine ist das verschwunden. Aber vor manchen besonderen Gottesdiensten bin ich auch heute noch ein bisschen aufgeregt. Das muss auch so sein“, sagt Ingrid Bullwinkel, die im kommenden Jahr gleich das nächste Jubiläum begeht: 50 Jahre ehrenamtliche Leitung des Kirchenchores.
Viele Pastorinnen und Pastoren, Küsterinnen und Küster hat sie in St. Ansgari erlebt. Mit jeder und jedem kamen Veränderungen, Ingrid Bullwinkel blieb – und auch ihre Orgelschuhe, die ebenfalls seit 50 Jahren im Einsatz sind; schwarze Slipper mit einer Ledersohle, die schon mit doppelseitigem Klebeband repariert werden mussten, aber noch immer tadellos ihren Dienst verrichten.
Für die Orgelvor- und nachspiele bedient sich die Lunestedterin gerne aus einem Notenbuch, das sie 2011 beim Kirchentag in Dresden gekauft hat. Und sonst mag sie besonders die modernen Stücke aus dem Liederbuch freiTöne, das im Sommer 2017 herausgekommen ist. Ihr „absolutes Lieblingsorgelstück“ ist jedoch die Toccata von Charles Maria Widor, seit sie diese in einem Gottesdienst bei einem Verbandschorfest gehört hat. Diese Toccata noch einmal live auf einer großen Orgel gespielt zu hören, ist ein großer Wunsch von ihr. Einmal hat sie selber an einer berühmten Orgel gespielt – an dem von Arp Schnitger erbauten Instrument in Lüdingworth. „Meine Freundinnen hatten mir ein Orgelkonzert geschenkt. Das Überraschende war, dass ich das Konzert dann selber an der historischen Orgel geben durfte – und meine Freundinnen waren die Zuhörerinnen.“
Nicht nur dieses Erlebnis zeigt: Die Musik hat das bisherige Leben von Ingrid Bullwinkel sehr bereichert. Und sie hat auch ihren Glauben gefestigt. „Vor meiner Heirat war ich kirchlich nicht besonders eingebunden. Durch die Kirchenmusik hat sich das sehr verändert.“ Heute ist die gelernte Erzieherin nicht nur Organistin und Chorleiterin, sondern auch Mitglied im Ortskirchenvorstand.
Am Sonntag, 28. September, um 10 Uhr wird das Orgeljubiläum im Gottesdienst gefeiert. Pastorin Katharina Behrens predigt – und natürlich wird es viel Musik geben. Der Ansgari-Chor und L’Unisono werden singen, die Lunestedter Nachwuchsorganistin Lilly Grosse und auch die Jubilarin werden musizieren.
Doch vorher sind noch die Konfirmationen in Lunestedt, auf die sich Ingrid Bullwinkel sorgfältig vorbereitet. „Einen gewissen Anspruch habe ich ja auch.“ Ihr Fahrrad mit den bunten Bändern werden aufmerksame Lunestedter also des Öfteren vor dem Seiteneingang der Ansgari-Kirche stehen sehen.